Kaum eine Reform im Bildungswesen hat so einen durchschlagenden „Erfolg“ in der öffentlichen Debatte gehabt, wie die „Individuelle Förderung von Kindern“. Ich ziele dabei insbesondere auf die Wirkung der Debatte auf die große Gruppe der „sorgenvollen Eltern“, die verunsichert – immer vehementer ihre Forderung nach einer „individuellen Förderung“ ihres Kindes einklagen und in Einzelfällen selbst vor dem Einsatz drastischer Mittel, die an Stalking und Mobbing erinnern, nicht zurückschrecken. Mit dem Thema „Bildungschancen“ lassen sich Massen bewegen und Wahlen gewinnen – doch bitte nicht auf den Rücken von Schulen, Kollegien und nicht zuletzt der Kinder in der Schulgemeinschaft selbst.

Meines Erachtens hat sich in der Öffentlichkeit ein Grundverständnis von „individueller Förderung“ entwickelt, welches ernsthaft das „Unikatprinzip“ zur Basis erklärt hat. Der Lehrer wäre somit vergleichbar mit einem Künstler, der aus jedem Kind ein eigenständiges – nicht wiederholbares – Werk macht. Dieses öffentliche Grundverständnis führt immer häufiger dazu, dass Eltern in ihrer Forderung nach einer individuellen Förderung ihres Sprösslings selbst vor Maßnahmen, die an Stalking und Mobbing erinnern, nicht zurück schrecken – denn Sie glauben, das Recht auf ihrer Seite zu haben. Schlimmer noch, die meisten Schulen haben noch keine „Kommunikationsstrategie“, um auf solche Situationen zu reagieren. Wo finden die Betroffenen Hilfe, welche Handreichungen gibt es, um Eltern zu informieren und in ihren Forderungen wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen? Wie vermeiden Schulen von Anfang an eine falsche „Interpretation“ von individueller Förderung?

Wir sprechen hier ein Thema an, welches für jede Mutter und jeden Vater von hoher Bedeutung und Wertigkeit ist. Sie selbst haben erlebt und erleben es täglich, welchen Stellenwert Wissen, Kompetenz, Qualifikation und vor allem „Scheine/ Zeugnisse/Abschlüsse“ für Karriere und Erfolg haben. Welchen „Schatz“ kann man einem Kind mehr mitgeben, als eine gute Ausbildung und eine Perspektive für lebenslangen Erfolg? Mehr noch, wo entwickeln Eltern jemals mehr Angst, als in den Fragen der Sicherheit, Gesundheit und Glücks ihres Kindes? Angst fressen Seele auf, Angst provoziert Gewalt, Angst enthemmt – also muss den Eltern als erstes die Angst genommen werden.

Angst entwickelt sich dort, wo das Umfeld bezüglich seiner Risiken und Gefahren nicht überblickt werden kann, wo es an Informationen fehlt, keine Strategie und Stabilität zu sehen ist – wo es eben an verlässlichen Umweltbedingungen und Kenntnissen fehlt. Das gilt übrigens nicht nur für Eltern, sondern auch und insbesondere für die Schulen und Kollegien. Reformen bedürfen Menschen, die motiviert und engagiert an den neuen Strukturen arbeiten. Reformen sollten dialogorientiert umgesetzt und auf einer Basis des gegenseitigen Respektes und der Anerkennung erfolgen. Sie müssen sichere Umfeldbedingungen bereitstellen, die vorhandene Potentiale einbinden und gleichzeitig die notwendigen Ressourcen bereitstellen.

In den kommenden Wochen möchte ich mich in diesem Blog verstärkt um die praktischen Erfahrungen mit dem Prinzip der „individualisierten Förderung“ beschäftigen. Was bedeutet sie für die Kinder, was für die Lehrer, die Schule und die Eltern? Im Fokus aber steht, was benötigen Lehrer und Lehreinnen, um gesund und leistungsgerecht das Prinzip der „individuellen Förderung“ wirklich in die Praxis des alltäglichen Unterrichtes zu überführen. Es würde mich freuen, wenn viele von Euch mit uns Niekaoten zu diesem Thema in einen kritisch konstruktiven Dialog einsteigen würden.
Beste Grüße
Udo